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Eine Reitschule auf einem Guckkastenblatt um 1760 |
Reitkunst, auch klassische Reitkunst, ist ein Reitsystem für Pferde, das über längere Zeiträume bewährte
Prinzipien der Pferdeausbildung zu einem Kanon zusammenfasst und in seiner verfeinerten Ausprägung einen
künstlerischen bzw. kunsthandwerklichen Anspruch an den Ausdruck des Pferdes hat.
Grundsätze
Wichtige Grundsätze der Reitkunst sind die freiwillige Mitarbeit des Pferdes und ein Muskeltraining, das das Pferd in die Lage versetzt, das Gewicht des Reiters in allen Lektionen ohne Schaden an Leib und Seele ein Leben lang tragen zu können. Hierzu wird der Schwung des Pferdes – seine muskuläre Fähigkeit zur Bewegung – gefördert und die Gewichtsverteilung durch Absenkung der Kruppe (Hankenbeugung) und Aufrichtung des Halses mehr auf die Hinterbeine verlegt. Die Reiter werden angehalten, stets über ihren Umgang mit dem Pferd nachzudenken und an sich selbst zu arbeiten; Fehler werden erst beim Reiter und nicht beim Pferd gesucht.
Im Unterschied zur Gebrauchs-Militärreiterei (jedoch wieder in Übereinstimmung mit der aus dieser abgeleiteten Turnierreiterei nach den Richtlinien der FN) wird großer Wert auf feine Einwirkung, eine weichstmögliche, stets zum Nachgeben bereite Hand („Pfötchen, nicht Pfote“ nach Egon von Neindorff) und unsichtbare Hilfengebung aus dem korrekten Sitz heraus gelegt.
Ausbildung
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Übung „Aufsitzen“ aus Johann Elias Ridingers Vorstellung und Beschreibung derer Schul und Campagne Pferden nach
ihren Lectionen von 1760 |
Die Ausbildung eines Pferdes nach den Prinzipien der klassischen Reitkunst kann grob in drei Phasen eingeteilt werden:
- Remontenschulung (Geradeausreiten)
- Campagneschule (Seitengänge, beginnende Versammlung)
- Hohe Schule (Hohe Versammlung, voll durchtrainiertes Pferd; Schulsprünge)
Die von der FN in den 1950er-Jahren entwickelte Ausbildungsskala fasst eine Reihe von Prinzipien bei der Pferdeausbildung zusammen. Sie findet vor allem im deutschsprachigen Bereich als Richtschnur Verwendung.
Die bekanntesten Stätten der klassischen Reitkunst sind:
- die Spanische Hofreitschule in Wien, Österreich
- die Ecole Nationale d'Equitation in Terrefort bei Saumur, Frankreich, mit dem Cadre Noir.
- das Reitinstitut Egon von Neindorff in Karlsruhe, Deutschland
Die Doma Clasíca wird gelehrt an folgenden Stätten:
- die Königlich-Andalusische Reitschule in Jerez de la Frontera, Spanien
- die Escola Portuguesa de Arte Equestre in Queluz, Portugal
Schulen
Die Reitkunst entwickelt aus den natürlichen Gangarten des Pferdes (Schritt, Trab, Galopp, Karriere (Renngalopp)
und Sprung, zu welchen die Lancade gehört) die geregelten Reitgänge, die so genannten Schulen auf der Erde:
Passagieren, Piaffieren oder stolzer Tritt, Redopp, und Schulen über der Erde: Levade, Pesade, Terre à Terre, Mezair, Courbette, Croupade, Ballotade, Kapriole.
Die meisten dieser Lektionen haben einen militärischen Ursprung, da diese Manöver es dem Reiter ermöglichten,
Waffen vom Pferd aus und vor allem sein Pferd selber als Waffe im Nahkampf wirksam einsetzen zu können.
Alle diese Bewegungen sind vorwärts gerichtet, während die Seitengänge das Pferd zu kurzen Wendungen
befähigen, bei welchen es sich mit Vorder- und Hinterbeinen auf nebeneinander liegenden Linien, dem so genannten
doppelten Hufschlag, bewegt und die Füße der einen Seite über die der anderen hinwegschreiten.
Hierher gehören
die Schulen:
Schulterherein, Travers, Renvers und Konterschulterherein, die nur in der Bahn geritten werden, die
Pirouette, das Passadieren, Quadrille und Karussell.
Geschichte und Entwicklung
Allgemein steht die Reitkunst im Spannungsfeld zwischen einem künstlerischen Anspruch der Verfeinerung des
Pferdes als „l'art pour l'art“ einerseits und dem praktischen Einsatz des Pferdes für bestimmte Dienstzwecke. Viele
Lektionen der Reitkunst entwickelten sich ausgehend von praktischen Erwägungen, während umgekehrt auch
Erkenntnisse und Methodik der Reitkunst mehr oder weniger ausgeprägt in die Gebrauchsreiterei einflossen. Solinski
(s.u. Lit.) geht soweit, die Reiterei in eine zweckfreie Freizeitreiterei, zu der auch die klassische Reitkunst gehört,
und eine praxisbezogene Nutzreiterei zu unterteilen.
Als Scheidepunkte der Reitkunst kann man wohl folgende
(chronologisch geordnete) Entwicklungen ansehen:
- Das Ende der gepanzerten Ritter und der Beginn agilerer Kampfmanöver
- Die im Barock sich zunehmend verfeinernde Lebensart des Adels, der über genug Muße verfügte
- Die Vergrößerung der Kavallerietruppen und damit der Notwendigkeit einer Schnellausbildung
- Die Entwicklung und Dominanz englischer Vollblüter
- Die Entscheidung, die Turnierreiterei im 20. Jahrhundert auf den Prinzipien der Militärreiterei, und nicht der
reinen Lehre der Reitkunst, zu basieren
Im Mittelalter gehörte der Stallmeister zu den höchsten Hofbeamten, und die Ausbildung in der Reitbahn war
Haupterfordernis für die höfische Erziehung.
Die Begründung der modernen Reitkunst ist in Italien, speziell in Neapel (das damals zu Spanien gehörte) zu
suchen, wo Federigo Griso (um 1552) eine Reitakademie errichtete, die vom Adel fast ganz Europas besucht wurde.
Sein Schüler Pignatelli erfand die Kandare und zwei von dessen Schülern, Antoine de Pluvinel, der Erfinder der
Pilaren und des ersten geordneten Dressursystems, und Salomon de la Broue, begründeten die neue Reitkunst in
Frankreich, während ein dritter, der Chevalier Saint-Antoine, unter Jakob I. der erste Stallmeister in England wurde.
Zu einer ersten Blüte gelangte die Reitkunst um die Mitte des 18. Jahrhunderts durch die Reitschule in Versailles.
De la Guériniere, Stallmeister Ludwigs XV., gab der Reitkunst in seiner „École de cavalerie“ (1733) eine
wissenschaftliche Grundlage, auf welcher sie sich auch in Deutschland weiter entwickelte. Durch die Gründung von
„academies d'equitation“ bzw. Ritterakademien wurde versucht, auch das reiterliche Niveau zu halten bzw. zu
verbessern.
In Deutschland standen im 18. Jahrhundert die Reitschulen zu Koburg und Wien in hohem Ansehen. Johann Heinrich
Ayrer (vormals Direktor der „Academie d'equitation“ in Paris) begründete als Nachfolger von Andreas Julius Öhlmann
als Professor der Sport-Fakultät der Universität Göttingen den Ruf der Göttinger Schule, der sich unter seinem Sohn
Ernst Ferdinand Ayrer bis ins 19. Jahrhundert erhielt. Letzterer verließ (wohl auch wegen sinkender Studentenzahlen)
aufgrund von deren erstarkender Vorliebe für englische Vollblüter und romantischeres Ausreiten im Gelände, 1831
Göttingen und wurde Obermarstallmeister in Berlin.
Etwa zeitgleich mit Heinrich Ayrer war am Marstall München von Kesling Oberststallmeister, der seine Ausbildung an
der Hofreitschule von Versailles genossen hatte. Auch hier war unter späteren Stallmeistern eine
Schwerpunktverschiebung hin zum Geländereiten auf englischen Vollblütern festzustellen.
Während in Frankreich mit der Revolution 1789 auch viele der Reitakademien geschlossen wurden und sich die
Reiterei allgemein mehr dem „Massentransport“ von Kavalleristen zuwandte, konnte sich in Deutschland die
Tradition des akademischen Reitens etwas länger halten.
Nach einer Tiefphase in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, ist in den letzten Jahren wieder ein gesteigertes
Interesse an dieser „reinen Lehre“ zu erkennen, wie auch Vereinsgründungen wie Xenophon e.V. oder der
Bundesverband für klassisch-barocke Reiterei oder Neugründungen von Hofreitschulen (Hofreitschule Bückeburg) und
der Académie du spectacle équestre in Versailles belegen. Mit dazu beigetragen haben kann auch das steigende
Interesse an Barockpferden, speziell Andalusiern.
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